Das Leben im Österreich der Gegenwart hat nicht mehr viel gemeinsam mit dem Leben vor drei oder vier Jahrzehnten. In einer Artikelserie beleuchten wir die sozialen, ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen. Und ihre Wirkung auf die Menschen.
„In einem kleinen Intervall, seit mir der Bart zu sprossen begann und seit er zu ergrauen beginnt, in diesem halben Jahrhundert hat sich mehr ereignet an radikalen Verwandlungen und Veränderungen als sonst in zehn Menschengeschlechter, und jeder von uns fühlt: zu vieles fast! So verschieden ist mein Heute von jedem meiner Gestern, meine Aufstiege und meine Abstürze, dass mich manchmal dünkt, ich hätte nicht bloß eine, sondern mehrere völlig voneinander verschiedene Existenzen gelebt.“
Da braucht mensch nicht herumzureden: fortschrittliche Politik in Österreich ist spätestens im Jahr 2017 mit der Nationalratswahl regelrecht zerbröselt. Das Ergebnis ist eine Regierung, die auf Ausgrenzungspolitik und die Zerstörung der sozialen Grundlagen der Republik setzt. Die Suche nach den Ursachen dieser Entwicklung kommt über die Jahre 2015/16 und Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea nicht hinaus.
„[…] die Welt, in der ich aufgewachsen bin, und die von heute und die zwischen beiden sondern sich immer mehr für mein Gefühl zu völlig verschiedenen Welten. […]“
Diese retrospektive Kurzsichtigkeit verhindert den Blick auf andere Aspekte, die wesentlich umfassender und nachhaltiger Österreich (stellvertretend jetzt für fast alle industriealisierten Länder, weil reflektive nun einmal in Österreich gemacht wird) verändert und damit geprägt haben: Arbeitsformen, Arbeitsinhalte und Beschäftigung haben sich verändert, die sozialen Beziehungen zwischen Menschen sind anders geworden, die Art und Weise, wie sie ihr Geld ausgeben und damit auskommen müssen, hat sich verändert. Die Politik hat diese Veränderungen weitgehend achselzuckend hingenommen bzw. zum Teil erfreut zur Kenntnis genommen. Fortschrittliche Parteien haben diese Veränderungen vielfach hingenommen oder einfach ignoriert.
„Und ein geheimer Instinkt in mir gibt ihnen recht: zwischen unserem Heute, unserem Gestern und Vorgestern sind alle Brücken abgebrochen. Ich selbst kann nicht umhin, mich zu verwundern über die Fülle, die Vielfalt, die wir in den knappen Raum einer einzigen – freilich höchst unbequemen und gefährdeten – Existenz gepreßt haben, und schon gar, wenn ich sie mit der Lebensform meiner Vorfahren vergleiche. Mein Vater, mein Großvater, was haben sie gesehen? Sie lebten jeder ihr Leben in der Einform. Ein einziges Leben vom Anfang bis zum Ende, ohne Aufstiege, ohne Stürze, ohne Erschütterung und Gefahr, ein Leben mit kleinen Spannungen, unmerklichen Übergängen; in gleichem Rhythmus, gemächlich und still, trug sie die Wellte der Zeit von der Wiege bis zum Grabe. Sie lebten im selben Land, in derselben Stadt und fast immer sogar im selben Haus; was außen in der Welt geschah, ereignete sich eigentlich nur in der Zeitung und pochte nicht an ihre Zimmertür.“
Stefan Zweig (1942): Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers.
Mit einem Blick auf „die Welt von gestern“ wollen wir sichtbar machen, wie einschneidend die Veränderungen der letzten Jahrzehnte waren und wie stark sie in das Leben einzelner Menschen eingegriffen haben. Sichtbar machen, wo genau die gesellschaftlichen Brüche stattgefunden haben, auf die soziale, gesellschaftliche, ökonomische und auch politische Antworten gefunden und umgesetzt werden müssen. Denn ohne Umsetzung demokratischer, sozialer, humanistischer Antworten auf diese Umbrüche überlässt fortschrittliche Politik die Zukunft jenen, die gerade darangehen, alles zu zerstören, was eine lebenswerte, inklusive und demokratische Welt ausmacht. Die Entwicklungen und Fehler von Gestern sind der Ausgangspunkt der Suche nach den fortschrittlichen Konzepten zur Erreichung eines guten Lebens für alle.
[…] Teil einer Serie zu den sozio-ökonomischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte und ihrer Wirkung auf die […]