reflektive

Zusammen alleine

Spätestens wenn Schulkinder das Wort Quarantäne kennen, wenn es mehr Hamster als KonsumentInnen in Supermärkten gibt und Eltern angesichts der verdünnten Betreuungsstrukturen schon gedanklich die Decke auf den Kopf fällt, dann wissen wir: Die nächsten Wochen werden uns in Erinnerung bleiben.

Aber viel wesentlicher ist, dass genau wir es sind, die mit unserem Verhalten darüber mitentscheiden, ob wir andere in potenzielle Gefahr bringen oder nicht. Für die öffentliche Gesundheitsversorgung und die öffentliche Sicherheit werden die nächsten Wochen entscheidend sein: Corona – ein großes politisches, wirtschaftliches und soziales Survival Camp.

Alles und alle miteinander verbunden

Was in China zum dortigen Neujahrsfest begann und so fern schien, ist seit einigen Wochen und spätestens seit den letzten Tagen bei uns angekommen. Die Coronavirus Verbreitung zeigt uns, wie verflochten unsere Welt ist. Die wirtschaftlichen globalen Lieferketten, der Tourismus, der Verkehr, die Arbeitsmigration und auch die Politik. Diese Verbundenheit kann Sorge machen und auch den Boden für Verschwörungsphantasien bieten. Die Verbundenheit lässt sich aber auch im Harari‘schen Sinne nutzbar machen als Basis für gemeinsames Vorgehen, das Teilen von Wissen und auch Unterstützung, wenn es ernst wird.

Paradoxe Hilfe

Oft war in den letzten Tagen von PolitikerInnen zu hören, es brauche nun Zusammenhalt und Solidarität. In einer Zeit, in der sich ökonomisches Kosten-Nutzen-Denken tief in unsere individualisierten Lebenswelten verankert und Solidarität nur einmal im Jahr einen Feiertag hat, ist das gar nicht so schnell zu (re)aktivieren. Noch dazu, wo es nicht gilt, wie in Hochwasser- oder sonstigen Krisen, einander durch Hilfe oder Spenden zu helfen und unter die Arme zu greifen. Nein, gerade das ist jetzt nicht gefragt. Es gilt, die sozialen Kontakte zu reduzieren, sich also ein Stück zu isolieren, Abstand zu halten, sich nicht mehr mit älteren Familienmitgliedern zu treffen, Freundschaften auf Eis zu legen. Das neue Soziale wird sicher ein mobiles oder digitales. Schon jetzt sieht man die weniger werdenden Menschen auf der Straße noch mehr telefonieren. Und es ist häufiger besetzt. Bisweilen sind sogar Telefonnetze kurzfristig überlastet.

Viele Fragen offen

Die noch nie dagewesene Coronavirus-Krise führt zu noch nie dagewesenen politischen Maßnahmen. Die Aufforderung zuhause zu bleiben, Unis, Schulen und Kindergärten zu schließen, ganze Täler abzusperren und zur Quarantäne aufzufordern, politische Wahlen auf Gemeindeebene abzusagen, Demonstrationen zu untersagen, Reisewarnung für die ganze Welt auszusprechen und noch einiges mehr sind – zeitlich beschränkte – massive Eingriffe in unsere Grundfreiheiten. Bei dieser Gesamtschau wirkt die offensichtliche Diskrepanz zwischen den politischen Botschaften, alle Kinder -wenn möglich- zuhause lassen und gleichzeitig über Teleworking zu arbeiten, fast vernachlässigbar. Die wirtschaftlichen Folgen sind noch gar nicht abschätzbar. Es werden sich politische Antworten finden, aber diese müssen erst ausverhandelt, zur Debatte gestellt werden. Im Notfall kann ein Gesundheitsminister oder eine Bundesregierung durch einen Erlass vieles erwirken. Die Problemlösungen brauchen aber wieder eine parlamentarische und auch eine zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung. Die ersten Schritte haben dazu in den letzten Tagen begonnen.

Zwischen Haushofer und Houellebecq

Unser Freizeitverhalten wird in den nächsten Wochen auf die Probe gestellt werden, gerade weil wir eine Art von neuer freier Zeit, aber ohne outdoor-Kulturangebot haben. Kino-, Konzert-, Theater oder Kaffeehausfans müssen auf Netflix, im besten Fall öffentlich-rechtliches Fernsehen/Radio oder auch ein gutes altes Buch umsteigen. Hier sei Marlene Haushofers „Die Wand“ oder auch Houellebecq „Die Unterwerfung“ (wenn der Islam-Fokus etwas ausgeblendet und auf das Verhältnis des Patriachats zum Staat geblickt wird) empfohlen.

Das existenzielle Zurückgeworfen-Sein auf die eigenen vier Wände, auf die engsten sozialen Beziehungen erzeugt in einer Multi-Optionen Gesellschaft, in der sich für jedes Bedürfnis schnell eine (Konsum-)Lösung findet, automatisch Handlungsdruck. So werden zu Gewalt neigende Männer nicht zu Gandhis, wenn sie aufgefordert werden zuhause zu bleiben. Die Zugriffszahlen im Internet halten uns einen virtuellen Spiegel vor: in der Lombardei sind die Zugriffe der Porno-Site YouPorn um 50% gestiegen. In China gab es einen Anstieg an häuslicher Gewalt. Italien ist uns zwei Wochen in der Krisenentwicklung voraus.

Wer sind wir, wenn wir alleine sind? Wie dick oder dünn ist die Schicht der modernen Zivilisation? Was ist das Normale an unserer Normalität? In ein paar Wochen wissen wir mehr.

Einsame Menschen werden in den nächsten Wochen vielleicht noch einsamer. Menschen im Gesundheits- und im Sozialbereich mit viel Arbeit werden in den nächsten Wochen noch viel mehr Arbeit leisten. Bleiben wir in Kontakt, hören und lesen wir einander. Alle sind miteinander verbunden.

Denn es gibt nicht nur ein (öffentliches) Leben vor, sondern auch nach Corona. Damit das auch für die vulnerablen Gruppen und unser Vertrauen ins Gesundheitssystem gilt, dafür bleiben wir die nächsten Wochen zusammen alleine.

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Anna Schopf

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