So einzigartig die EU als Friedens- und Wohlstandsprojekt ist, so einzigartig ist auch ihr Demokratiedefizit. EU-BürgerInnen merken, dass sie wenig Einfluss- und Mitsprachmöglichkeiten haben. Worin besteht das Demokratiedefizit, und was haben die Parteien im Europa-Wahlkampf für Konzepte und Versprechungen dieses zu verkleinern? Eine Analyse und ein Blick auf die Wahlprogramme.
Demokratiepolitische Matrjoschka
Seit Beginn der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, 1951) hat das EU-Parlament von Vertrag zu Vertrag immer mehr politischen Spielraum erhalten. Allerdings ist das EU-Parlament nicht mit einem einzelstaatlichen Parlament, das Gesetze beschließt und Regierungen mittels Kontrollrechten kontrolliert, vergleichbar. Vielmehr ist das europäische Gefüge eine Art Dreigespann aus EU-Kommission, EU-Rat und EU-Parlament (siehe reflektive-Beitrag). Jede der drei Institutionen ist auf ihre Art politisch gewählt und legitimiert. Das EU-Parlament kann seit 1979 direkt von den EU-BürgerInnen gewählt werden. Der EU-Rat besteht aus den Regierungschefs der Mitgliedsstaaten, und diese wurden durch die Ergebnisse der Parlamentswahlen (indirekt) gewählt, wenn auch nicht in ihrer Rolle als Mitglied des EU-Rats. Diese politische Legitimation besteht also auf der zweiten Ebene. Wenn der Rat dann die EU-Kommission ernennt und das EU-Parlament diese dann bestätigt, dann ist dies wiederum die nächste, schon sehr ferne Ebene. In der Politikwissenschaft wird deshalb von „langen Legitimationsketten“ in der EU gesprochen. Bildlich kann man sich dies wie Matrjoschka-Figuren vorstellen, die ineinander stecken, und wo nur die kleinste direkt gewählt wurde. Neben der EU-Kommission unterliegen die Europäische Zentralbank und der EuGH keiner demokratiedemokratischen Rechenschaftspflicht. Sie beauftragen sich sich sozusagen selbst. Im Fall der Zentralbank ist ja auch ausdrücklich gewünscht, dass sie entpolitisiert, also frei von äußerem Einfluss agiert.
Regierungschefs regieren Europa
Die Exekutive – in Form der Regierungschefs – dominiert klar im europäischen Kräftespiel. Denn im komplexen Gefüge hat der Rat den größten Einfluss. Hier werden Entscheidungen in einer Art black box beschlossen (Schumann 2019). In der öffentlichen Debatte wird häufig der Zwang zur Einstimmigkeit des Rats problematisiert. Bei wichtigen Fragen kommen durch Blockaden (das Veto) einzelner, weniger Mitgliedsstaaten keine Entscheidungen zustande. Die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip findet sich bei der ÖVP (S. 56), der SPÖ (S. 107), den NEOS (S. 11) und den Grünen (S. 24) im EU-Wahlprogramm wieder. Die FPÖ hingegen will am Einstimmigkeitsprinzip festhalten. Das Mehrheitsprinzip betrifft aber die inner-demokratische Verfasstheit des Rats und nicht im Geringsten die Einflussmöglichkeiten der EU-BürgerInnen. Um den Rat als Gremium zu reformieren gibt es bei den Oppositionsparteien ähnliche Vorschläge: Die SPÖ, NEOS und Grünen wollen langfristig den Europäischen Rat zu einer zweiten Kammer neben dem EU-Parlament umgestalten.
Währenddessen geschieht die Gesetzgebung auf Vorschlag der EU-Kommission. Das EU-Parlament fungiert als eine Zustimmungs- oder Ablehnungsarena, ohne selbst initiativ Gesetzesinitiativen setzen zu können. Vorschlags- und Beschlusskompetenz liegen also nicht in einer Hand. Deshalb fordert die SPÖ in ihrem EU-Wahlprogramm mehr Mitsprache für das EU-Parlament durch echtes Initiativrecht (S.107) und mehr Transparenz bei EU-Ministerräten sowie eine Veröffentlichung der Abstimmungsergebnisse. Auch ist die Forderung nach einem Initiativrecht des EU-Parlaments im zweiseitigen Manifest der von der Liste “Jetzt” unterstützen Initiative “Ein Europa“ enthalten (S. 1). Die FPÖ will zwar dem EU-Parlament ein Initiativrecht einräumen, allerdings einem EU-Parlament mit um die Hälfte weniger Abgeordneten; und auch nur bei wenigen Themen wie der Außen- und Sicherheitspolitik.
Willensbildung im Binnenmarkt
Es ist in der Wissenschaft unbestritten, dass die Europäische Union in ihrer heutigen Form große Demokratiedefizite aufweist. Kern des Demokratiedefizits ist ein fehlender europäisierter Willensbildungsprozess. Denn Willensbildung ist das Herzstück jeder Demokratie. Wirtschaftlich und rechtlich ist die europäische Integration weit fortgeschritten (worin auch die Entstehungsgeschichte nachwirkt), doch die politische Integration hinkt hinterher. Claus Offe weist darauf hin, dass die EU als großes Liberalisierungsprojekt mit Wirtschaftsfokus gerade darauf aus war, „nationalstaatliche Grenzen mit ihren sozialökonomischen Schutzfunktionen einzureißen um ungehinderten Marktwettbewerb auf einen (angeblich) gleichen Spielfeld zu gewährleisten“ (Offe 2016, S. 162). Diese Sichtweise begründete Jahrzehnte lang die große EU-Verbundenheit der konservativen Parteien, während die linken Parteien, wie die SozialdemokratInnen mit ihren Gewerkschaften, oftmals mit den EU-Grundfreiheiten haderten. Jetzt scheinen die Perspektiven vertauscht zu sein: während die Konservativen sich mehr und mehr wieder nationalstaatlich organisieren wollen, steht die Vision einer Sozialunion als „positive“ Integration bei den linken Parteien hoch im Kurs. Doch wo liegen konkret die Demokratiedefizite und wie ließe sich die EU demokratisieren?
Die EU regelt das, was die Mitgliedsstaaten gemeinsam regeln (müssen)
Eine Kompetenzverschiebung zurück an die – im Falle von Ungarn oder Polen nicht unbedingt demokratischeren – Mitgliedsländer wäre nur sinnvoll und vertretbar, wenn es sich um Problemlösungen handeln würde, die einzelstaatlich besser oder ebenso gut gelöst werden könnten. Das ist in der heutigen Welt aufgrund der grenzüberschreitenden Problemlagen nicht das beste Konzept. Es handelt sich also um eine „Zwickmühle zwischen europäischer Bürokratie ohne zureichende demokratische Verankerung einerseits und nationalstaatlicher Demokratie ohne zureichende Regelungs- und Steuerungskapazität andererseits“ (Schmidt 2006, S. 436). Die ÖVP hat in ihrem Wahlprogramm einen etwas plumpen Fokus auf die „großen“ Themen, bei denen es europäische Politik stärker braucht und „kleine“ Themen, die primär im Zuständigkeitsgebiet der Mitgliedsländer geregelt sein sollten (S. 14). Die Verzahnung der großen und kleinen Themen wird dabei außen vor gelassen. „Große“ Themen betreffen nach Meinung der ÖVP Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Weiterentwicklung des EU-Binnenmarktes und des internationalen Handels, aber auch den Klimawandel. „Kleine“ Themen betreffen die Sozial-, Gesundheits-, Gesellschafts- und Familienpolitik sowie das Straf- und Zivilrecht. Ebenso möchte die ÖVP mehr Richtlinien als Verordnungen aus Brüssel. Denn Richtlinien müssen innerhalb von zwei Jahren erst in nationales Recht (mit Spielraum) umgesetzt werden, während Verordnungen unmittelbar in den Mitgliedsstaaten gelten. Vor einigen Tagen machte Bundeskanzler Kurz ein Angebot an die anti-europäischen und EU-kritischen WählerInnengruppen, indem er sich für die Streichung von 1.000 EU-Verordnungen aussprach. Davor hatte er letzte Woche die Idee, den Lissabon-Vertrag neu zu verhandeln. Doch all diese Vorschläge lösen an den eigentlichen Demokratiedefiziten der Union nichts.
Kluft zwischen EU-BürgerInnen und EU-Politikern
Eine zentrale Ursache für das Demokratiedefizit ist die wahrnehmbare und auch gut für EU-KritikerInnen instrumentalisierbare Kluft zwischen Regierten und Regierenden. Durch die langen Legitimationsketten und auch den intransparenten Aushandlungsprozessen der Kommissionsmitglieder entsteht bei EU-BürgerInnen zu Recht der Eindruck, wenig Einfluss auf die politischen Prozesse zu haben. Auch der intransparente und starke Einfluss von Lobbyingverbänden wird immer wieder – auch im Wahlkampf der SPÖ (S. 100) – zum Thema gemacht. Lobbying und Konzerne werden dabei annähernd gleichgesetzt. Die Grünen sehen mit dem im Jänner 2019 geschaffenen „legislativen Fußabdruck“ schon mehr Transparenz, als in manch anderem nationalen Parlament. Sie möchten, dass BürgerInnen bereits bei der Entstehung von Gesetzen Klarheit über den Lobbyingeinfluss bekommen (S. 25). Die NEOS wollen, dass der Druck auf die Kommission steigt, sich mit Bürgerinitiativen auseinandersetzen zu müssen (S. 9). Denn bisher ist noch aus keiner Bürgerinitiative eine Gesetzesinitiative entstanden.
Ablesbar ist die Kluft zwischen EU-BürgerInnen und ihren EU-VertreterInnen auch in der niedrigen Wahlbeteiligung zum EU-Parlament. 2014 haben nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigen gewählt (die Wahlbeteiligung lag europaweit nur bei 43%, EU-Bericht 2014, S. 48)) Eine Direktwahl des Präsidenten (oder der Präsidentin) der Europäischen Kommission und auch europaweite Abstimmungen wären eine Möglichkeit, mehr Mitsprache zu realisieren. In diese Richtung gibt es Vorschläge in den Wahlprogrammen der NEOS als auch der SPÖ. Auch fordern SPÖ, NEOS und Grüne europäische Wählerlisten für das EU-Parlament.
Informed Consent der europäischen Öffentlichkeit?
Doch bloße Mitsprache – wie der Brexit zeigt – ist zu wenig, denn es braucht Voraussetzungen, um an Informationen und Zugang zur politische Debatte und zu Entscheidungsprozessen zu kommen. Eine europäische Öffentlichkeit könnte dies bieten. Diese existiert – wenn überhaupt – nur fragmentarisch. Stefan Zweig hat schon in den 1930er Jahren gemeint, dass die „europäische Idee nicht diese Urform des Sichtbaren, des Fühlbaren, des Leidenschaftlichen erreicht, solange sie nicht eine Art Patriotismus und Uebernationalismus (sic!)“ wird. Sein Befund ist bis heute gültig. Dabei mag die Sprachenvielfalt eine Barriere sein, doch die Schweiz kann als gutes Gegenbeispiel dienen: Dort werden Diskussonen größtenteils in den verschiedenen Sprachgruppen separat geführt, begleitet von übergreifend kommunizierenden Eliten. Ein übergreifender europäischer Diskurs fehlt bislang. Österreich-Brüssel als politische Einwegskommunikation inklusive des Briefe-Pingpongs reicht nicht. Die SPÖ hat vielleicht auch deshalb in ihrem Wahlprogramm die allgemein klingenden Forderungen nach EU-weit geförderten Bildungsprogrammen zur Demokratieerziehung und Stärkung von Kulturprogrammen und Medienvielfalt aufgenommen (S. 99).
Das Problem des Demokratiedefizits innerhalb der EU ist weit größer, als das Problem der nicht besonders wirksamen Kontrollrechte des EU-Parlaments gegenüber der Kommission und dem Rat. Unabhängig davon braucht es EU-BürgerInnen, die ihre Kritik und auch Skepsis konstruktiv kanalisieren. Die EU steckt in der beschriebenen Zwickmühle aus einem demokratisch (noch) unzureichenden, aber als Regelungsebene besser passenden Institutionengefüge. Dieses Dilemma bleibt in der Debatte oft zu wenig berücksichtigt und wäre nur mit europäisch-orientierter und Demokratie fördernder Politik aufzulösen. Dann kommt vielleicht ein neuer europäischer Patriotismus ganz von selbst.
Zum Weiterlesen:
- Bonse, Eric (2019): Europawahl im Zwielicht. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Mai 2019.
- Offe, Claus (2016): Europa in der Falle. Berlin: Suhrkamp. Schmidt, Manfred G. (2006): Demokratietheorien. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
- Schumann, Harald (2019): Gesetzgebung in der Blackbox: Wie demokratisch ist die EU? In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Mai 2019.
- Zweig, Stefan (2016): „Erst wenn die Nacht fällt“. Politische Essays und Reden 1932-1942. Krems an der Donau: Edition Roesner.