Die Bundesregierung fladert 82% der krankenversicherten Menschen bis 2023 eine halbe Milliarde Euro für Gesundheitsleistungen.
Die Schlagworte „Zusammenlegung“ und „Patientenmilliarde“ stehen im Vordergrund der öffentlichen Debatte um das Sozialversicherungsorganisationsgesetz (SV-OG), das am 13. Dezember im Parlament beschlossen werden soll. Im öffentlichen Diskurs bisher untergegangen ist , dass den Gebietskrankenkassen, die zukünftig zur Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) zusammengeschlossen werden sollen, mit dem Gesetz sehr viel Geld weggenommen werden wird. 470 Millionen Euro werden es in den nächsten fünf Jahren sein. Diese Mittel braucht die ÖGK aber für Behandlungskosten, Medikamente oder Krankengeld. In Teil zwei unserer kurzen Serie zur „Reform der Sozialversicherung“ listen wir jene Mittel auf, die der ÖGK entzogen werden sollen.
Siehe auch:
Etwa 7,2 Millionen Menschen, also 82% der Bevölkerung, haben Anspruch auf Leistungen einer Gebietskrankenkasse. Bei einem Gesamtbudget von rund 15 Milliarden Euro ist für 2020 ein Defizit von 73 Millionen vorhergesagt. Da erstaunt es ein wenig, dass der Gesetzgeber der ÖGK zusätzlich Mittel wegnehmen und das zu erwartende Defizit deutlich erhöhen will.
Pauschale Schädigung der Gebietskrankenkassen
Als Schritt der Entbürokratisierung wurde im Jahr 1975 gesetzlich festgelegt, dass die Unfallversicherung jährlich den Krankenkassen einen bestimmten Betrag zur Behandlung von Arbeitsunfällen und Berufserkrankungen in deren Einrichtungen zu überweisen hat. Dieser sogenannte „besondere Pauschbetrag“ nach § 319a ASVG wird jährlich valorisiert und beträgt im Jahr 2018 ca. 209 Millionen Euro. Zu viel nach Ansicht der Unfallversicherung: Eine Einzelfallabrechnung würde nur etwa 58 Millionen kosten, so die AUVA.
Ob dies wirklich so ist, sei erst einmal dahingestellt. Die eingangs dargestellte Budgetlage der Gebietskrankenkassen miteinem Defizit zeigt deutlich, dass dieses Geld benötigt wird, um Gesundheitsleistungen zu bezahlen. Mit dem Sozialversicherungs-Organisationsgesetz soll dieser „besondere Pauschbetrag“ ab 2019 eingefroren, also nicht mehr jährlich erhöht, und ab 2023 gänzlich abgeschafft werden. Das erhöht aber das Defizit der Gebietskrankenkassen bzw. ab 1.1.2020 der Österreichischen Gesundheitskasse, wie Tabelle 1 zeigt.
Tabelle 1
Spätestens ab dem Jahr 2023 geht es nicht mehr nur um fehlende ein- oder zweistellige Millionenbeträge, sondern um mehr als 200 Millionen Euro pro Jahr. Da stellt sich doch die Frage, ob die Gebietskrankenkassen nicht vielleicht doch Anspruch auf dieses Geld hätten. Seit 1975 hat sich die Rechtslage zur Anerkennung von Arbeitsunfällen und Berufserkrankungen kaum, die Arbeitsrealität der Bevölkerung aber sehr erheblich verändert: Am Weg von der Produktionsgesellschaft der 1970er zur Dienstleistungsgesellschaft des 21. Jahrhundert ist die Zahl der Arbeitsunfälle stark gesunken. Dafür sind typische Erkrankungen von Dienstleistungs- und Büroberufen angestiegen: Seit dem Jahr 1990 hat sich die Zahl der Krankmeldungen wegen psychischer Erkrankungen verdreifacht. Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates oder der Augen (infolge der Bildschirmarbeit) sind ebenfalls angestiegen. Diese Kosten übernimmt jedoch nicht die Unfallversicherung, sondern die Krankenversicherung. Psychische Erkrankungen als Berufskrankheit anzuerkennen ist der Unfallversicherung sogar ausdrücklich untersagt.
Krankenversicherung soll Privatklinik finanzieren
Ein dazu vergleichsweise kleiner Verlust entsteht der neuen ÖGK ab 2020 aus jenen 14,7 Millionen Euro, die zukünftig von der Krankenversicherung zusätzlich in den Privatkrankenanstalten-Finanzierungsfonds PRIKRAF bezahlt und jährlich erhöht werden müssen. Diese zusätzlichen Mittel fließen für eine neu hinzukommende Privatklinik, nämlich die Privatklinik Währing. In die Medien gelangte der Fall, weil der medizinische Leiter der Privatklinik ein persönlicher Freund von Vizekanzler Strache ist.
Mittel aus dem PRIKRAF– im Jahr 2018 ca. 125 Millionen Euro – gibt es für Leistungen, deren Kosten auch in öffentlichen Spitälern von der öffentlichen Hand getragen würden. Dennoch hat der PRIKRAF einen gesundheitspolitisch fragwürdigen Lenkungseffekt: Es ist nicht leicht nachvollziehbar, warum private Krankenanstalten für Leistungen Geld erhalten sollen, die in öffentlichen Spitälern in der Regel qualitativ besser und für die PatientInnen auch billiger erbracht werden könnten. Faktisch stellt der PRIKRAF eine Grundsicherung für Gesundheitseinrichtungen dar, die regelmäßig für medizinische Leistungen genutzt werden, die eben nicht von der öffentlichen Hand getragen werden (wie etwa Schönheitsoperationen).
Da der PRIKRAF auch Mittel aus anderen Versicherungsträgern als den Gebietskrankenkassen erhält, belastet nicht der gesamte Mehrbetrag die ÖGK (siehe Tabelle 2).
Tabelle 2
Staatliche Gesundheitsbeihilfe für Kassen wird gekürzt
Die Gebietskrankenkassen erhalten derzeit über einen Ausgleichsfonds der Gebietskrankenkassen eine „Beihilfe“ aus dem Bundesbudget in der Höhe von € 135 Millionen, die jedes Jahr aufgewertet wird (§1a GSBG). Diese Mittel werden für Gesundheitsleistungen benötigt. Nachdem die Gebietskrankenkassen in der ÖGK aufgehen, wird der Ausgleichsfonds durch einen Innovationsfonds ersetzt. Die Beihilfe wird für die ÖGK von derzeit 135 Millionen (über mehrere Umwege) auf 115 Millionen Euro gekürzt. Dazu wird auch die jährliche Aufwertung abgeschafft. In vier Jahren verliert die ÖGK aus diesem Grund 125 Millionen Euro (Tabelle 3).
Tabelle 3
Zwischensumme der Kürzungen und die „Patientenmilliarde“
Allein auf Grund der drei bisher dargestellten gesetzlichen Bestimmungen werden der ÖGK, in der zukünftig 82% aller ÖsterreicherInnen versichert sein werden, in den nächsten fünf Jahren zumindest 473 Millionen Euro an Mittel gekürzt (Tabelle 4).
Tabelle 4
Zur Bewerbung des SV-OG hat die Regierung eine Patientenmilliarde versprochen, also Einsparungen bei FunktionärInnen und in der Verwaltung in der Höhe von einer Milliarde Euro, die den PatientInnen zu Gute kommen sollen. Dass diese Behauptung völlig absurd und unrealistisch ist, haben wir in Teil eins dieser Serie dargestellt. Doch selbst die völlig absurde Behauptung der Bundesregierung, in vier Jahren 30% des Verwaltungsaufwands der Kassen reduzieren zu können, wiegt nicht die in Tabelle vier dargestellten Mittelkürzungen auf. Tabelle 5 zeigt die Entwicklung der Verwaltungskosten bei der ÖGK bis 2023 und die nach Angaben der Bundesregierung angeblich erzielbaren „Einsparungen“.
Tabelle 5
In keinem einzigen der Jahre 2020 bis 2023 kommen die von der Regierung in der Wirkungsfolgenabschätzung genannten Einsparungen auch nur in die Nähe der entzogenen Mittel (Tabelle 6).
Tabelle 6
Selbst wenn, was faktisch undenkbar ist, die Phantasieeinsparungen der Bundesregierung tatsächlich erreicht werden könnten, würden der ÖGK bis 2023 zumindest etwa 230 Millionen Euro entzogen werden. Und da die Verwaltungskosten in dieser absurden Annahme ja bereits um 30% gekürzt sind, können derartige Beträge ausschließlich durch schlechtere Gesundheitsleistungen für die Versicherten eingespart werden.
Die Bundesregierung spielt ein falsches Spiel
Hinzuzufügen bleibt: In dieser Rechnung sind weder die Zusatzkosten eines allfälligen österreichweiten Honorarschemas für ÄrztInnen noch zu erwartende Fusionskosten enthalten. Die tatsächlich zu erwartenden Mehrbelastungen und Mittelentzüge für die ÖGK sind also sehr wahrscheinlich deutlich höher, als in diesem Beitrag dargestellt. Damit stellt sich aber die Frage, warum die Bundesregierung ein Gesetz beschließen lassen will, das die Krankenversicherung von vier Fünftel der Menschen in diesem Land zwangsläufig in ein dauerhaftes Defizit zwingt? Selbstverständlich gibt es immer mehrere mögliche Antworten: Eine könnte Ignoranz heißen. Viel wahrscheinlicher ist aber, dass die Bundesregierung die Krankenversicherung ganz absichtlich zerstören will. Das wiederum kann nur privaten Versicherungsunternehmen einen Vorteil bringen.
Teil 1: Die Phantasiemilliarde
Teil 2: Die Kranken bestehlen, den Privatversicherungen geben
Teil 3: Welche Folgen hat die Regierungspolitik für Versicherte und PatientInnen?
Teil 4: Regierung versus Bundesverfassung
Siehe auch: Im Irrgarten der schwarz-blauen Sozialversicherung
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