In den letzten 25 Jahren ist der Anteil des Haushaltseinkommens, der für Wohnen ausgegeben werden muss, um 30% gestiegen. Das macht etwas mit Menschen.
Erster Teil einer Serie zu den sozio-ökonomischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte und ihrer Wirkung auf die Gesellschaft.
Dass die Wohnkosten steigen, ist regelmäßig Gegenstand der Medienberichterstattung und für einen großen Teil der Menschen in diesem Land unmittelbar spürbar. Im Mai 2018 waren Mieten im Vergleich zum Mai des Vorjahres um 3,8% gestiegen (siehe Statistik Austria). Der Anstieg war doppelt so hoch, wie die gesamte Inflation von 1,8%. Der Blick auf aktuelle Daten allein stellt das Ausmaß der Entwicklung aber nicht ausreichend dar.
Um die Dimension der Entwicklung von Wohnkosten realisierbar zu machen, lohnt sich ein Blick zurück über die letzten 25 Jahre. Diese Möglichkeit bietet uns die Konsumerhebung: Alle fünf Jahre erhebt die Statistik Austria, wofür die Menschen in Österreich ihr Geld ausgeben.
Grafik 1
Die Konsumerhebung 2014/2015 zeigt, dass Haushalte in Österreich durchschnittlich 26,1% ihres Einkommens für Wohnen (Mieten, Energie, Heizung, Wasser) ausgeben (Grafik 1). Der Wert lag im Jahr 1993 noch bei bei 20,4% des Einkommens. Zwischen 1993 und 1999 stiegen die Wohnkosten auf 23,5% der Einkommen an. Die leichte Erholung der Konjunktur um 2004/2005 erhöhte kurzfristig die Haushaltseinnahmen ein wenig stärker, als die Wohnkosten. Danach stiegen die Wohnkosten in Relation zum Haushaltseinkommen wieder deutlich an. In den 22 Jahren zwischen 1993 und 2015 ist der durchschnittliche Anteil der Wohnkosten an den Haushaltseinkommen also um fast 30% gestiegen. Diese Entwicklung hat sich, wie eingangs dargestellt, auch nach 2015 fortgesetzt.
Doch die Darstellung des Durchschnitts bildet Realität nicht vollständig ab, da Aufwendungen für Wohnen in unterschiedlichen Einkommensgruppen unterschiedlich sind. Aussagekräftiger als Durchschnittsrechnungen ist die Darstellung der Wohnausgaben nach sozialen Schichten. Die Konsumerhebung stellt auch anteilige Kosten für jeweils zehn Prozent der Haushalte von den niedrigsten bis zu den höchsten Einkommen dar (Grafik 2).
Grafik 2
Das Ergebnis ist erschreckend: Die 10% der Haushalte mit den niedrigsten Einkommen benötigen 33,6% ihres Haushaltseinkommen, um wohnen zu können. Das oberste Einkommenszehntel kommt mit wohlfeilen 21,7% aus. Haushalte mit niedrigen Einkommen haben also mit weit überdurchschnittlichen Wohnkosten zu kämpfen.
Einkommen ist nicht gleich Konsum
Und das ist noch immer nicht die ganze Realität. Das Haushaltseinkommen ist nämlich nicht immer das Geld, das einem Haushalt tatsächlich für Konsum zur Verfügung steht. Zur Untersuchung der Konsumausgaben werden nämlich bestimmte Ausgaben, die aus dem Einkommen bestritten werden müssen, nicht mitgerechnet. Darunter fallen etwa die Aufwendungen für Schulden und Kredite (weil die ja keinen aktuellen Konsum darstellen). Die Höhe der Konsumausgaben eines Haushalts sagt also mehr über die ökonomische Konsumkraft (und damit über den Lebensstandard) eines Haushaltes aus, als das Einkommen. Der erschreckende Befund, der sich aus Grafik 2 ergibt, wird noch wesentlich dramatischer als Anteil an den tatsächlichen Konsumausgaben dargestellt (Grafik 3).
Grafik 3
Das Einkommenszehntel der Haushalte mit den niedrigsten Konsumausgaben wendet 45,8% seiner monatlichen Ausgaben für Wohnen auf. Die Hälfte aller Haushalte in Österreich muss zumindest 30% ihrer Konsumausgaben für Wohnen reservieren. Das deckt sich auch mit anderen Untersuchungen wie etwa EU-SILC, die jährliche Studie zur Lebensbedingungen und Einkommen: Jeweils 40% der armutsgefährdeten Menschen und 40% der Menschen mit niedrigen Einkommen müssen jeden Monat mehr als 40% ihres Einkommens für Wohnen aufwenden (die Häufung der Zahl 40 in diesem Satz ist purer Zufall). Von Mietkosten über 40% des Haushaltseinkommens sind in Österreich 7,2% aller Haushalte betroffen. 14% der MindestsicherungsbezieherInnen – also ein doppelt so hoher Anteil der Haushalte – wenden über 40% ihres Haushaltseinkommens für Miete auf.
Der real existierende Anstieg der Wohnkosten in der Mittelschicht
Die Höhe der Wohnkosten, aber jedenfalls auch der spürbare Anstieg derselben, macht etwas mit den Menschen. Um abschätzen zu können, wie die Entwicklung der Wohnkosten auf die Menschen wirkt, die sie bezahlen müssen, sei hier die Entwicklung der Wohnkostenanteile nach Einkommenszehntel seit 1999/2000 dargestellt (Grafik 4).
Grafik 4
2014/2015 mussten Menschen mit den niedrigsten Einkommen um etwa 6% mehr von ihrem Einkommen für Wohnen aufwenden, als 15 Jahre zuvor (nämlich 33,6% ihres Einkommens, statt 31,8%). Dass dies eine extreme ökonomische Belastung ist, wurde bereits dargestellt. Vom stärksten anteiligen Anstieg der Wohnkosten sind jedoch das dritte und vierte sowie das siebte und achte Zehntel der Haushalte nach Einkommen betroffen. Die „untere Mittelschicht“ sowie die Einkommensgruppen an der Schwelle von Mittelschicht zu Oberschicht erlebten in den letzten 15 Jahren, wie der Anteil ihrer Wohnkosten am Haushaltseinkommen um 17 bis 21% gestiegen ist.
Um das zu verdeutlichen: Nicht die Höhe der Wohnkosten ist um 17% gestiegen, sondern jener Anteil des eigenen Einkommens, der für Wohnen aufgewandt werden muss. Auch wenn die Wohnkosten für Menschen mit sehr niedrigen Einkommen eine schwere Bürde sind, so spüren die untere Mittelschicht und obere Mittelschicht die Wohnkostensteigerungen der letzten 15 Jahre am stärksten. Und da Wohnkosten der mit Abstand größte Einzelfaktor bei den Konsumausgaben sind und es auch keine individuell zielführende Strategie zur kurz- oder mittelfristigen Senkung von Wohnkosten gibt, drückt sich das im Bewusstsein der Betroffenen durch: Sie sind gezwungen, den höheren Anteil der Wohnkosten an ihrem Einkommen zu kompensieren, indem sie die Kosten in anderen Bereichen der Lebensführung reduzieren.
Der Anstieg des Wohnkostenanteils am Einkommen verteilt sich als Einsparungen etwa auf die Bereiche Lebensmittel, alkoholische Getränke, Bekleidung, vor allem aber Erholung, Freizeit und Sport und Hobbys (darunter als größter Einzelposten: der Urlaub). Die höheren Wohnkosten werden also durch Konsumverzicht in anderen Bereichen ausgeglichen. Dieser Verzicht, darauf deuten die Zahlen der Konsumerhebung hin, wird als fehlende Möglichkeit der Teilhabe an einem erwünschten Lebensstil erlebt. Bestimmte Konsumentscheidungen, darunter Entscheidungen hinsichtlich Ernährung, Freizeit, Urlaub, aber auch Wohnen, werden nicht „rational“ hinsichtlich der vorhandenen Einkommen getroffen, sondern quasi als Vorleistung eines gewünschten sozialen Aufstiegs (etwa von der unteren Mittelschicht, gekennzeichnet durch das 3. Einkommenszehntel, in das 5. Einkommenszehntel; oder vom 7. Einkommenszehntel in das neunte). Die zur Finanzierung dieser „Vorleistung“ notwendigen Einkommensanteile erzwingen Einsparungen in anderen Konsumfeldern, die deutlich machen, dass ein Mensch oder eine Familie eben noch nicht sozial dort angekommen sind, wo sie hinwollen. Die Symbole des „Ankommens“ sind dabei etwa der Umstieg von Pauschalurlaubsreisen in türkische All-In-Klubs auf Individualreisen oder von einem Kleinwagen auf einen SUV. Konnte bis in die 1990er damit gerechnet werden, dass dieser Aufstieg gelingt, die Vorleistung und der daraus resultierende Konsumverzicht in anderen Feldern also nur vorübergehend ist, gibt es seit etwa 1992 kaum mehr Kaufkrafterhöhungen bei den Löhnen. Die „Vorleistung“ und der Konsumverzicht werden also zunehmend zur ständigen Lebensrealität (oder einem eigenen „Lebensstil“).
Es ist nicht überraschend, dass der besonders deutliche Anstieg des Wohnkostenanteils gerade bei der unteren Mittelschicht und der oberen Mittelschicht zu erkennen ist. Diese Gruppen orientieren sich am stärksten an den unmittelbar „über“ ihnen liegenden, ökonomisch konsumfähigeren Gruppen. Und bezahlen diese Orientierung mit Wohnkosten, die sie sich genaugenommen nicht mehr leisten können (wobei „der Markt“ jedoch auch keine Alternativen anbietet). Gesellschaftlich macht das etwas aus, denn die am stärksten von den Preisanstiegen betroffenen Gruppen sind nicht ausgegrenzte und politikferne Menschen, sondern die Kernschichten der früheren SPÖ- und ÖVP-WählerInnen. Und die haben sich in den letzten 25 Jahren ganz offensichtlich durch soziale und politische Verhaltensveränderung bemerkbar gemacht.
Wohnkostenanstieg kein Zufall, sondern Folge politischer Entscheidungen
Die als unglückliche Marktentwicklung erscheinende Erhöhung der Mietkosten ist dabei keinesfalls eine unabwendbare Naturgewalt, sondern Folge bewusster und gewollter gesetzlicher Veränderungen. Als ideologische Rechtfertigung des Wohnkostenanstiegs führen VertreterInnen der WohnungseigentümerInnen die heute höhere Wohnqualität an. Das ist zwar nicht völlig falsch, denn tatsächlich ist die Qualität sehr vieler Wohnungen in den letzten drei Jahrzehnten stark gestiegen. Die Reduktion auf Qualitätsverbesserungen blendet aber aus, dass nicht die gesteigerte Wohnqualität der treibende Faktor bei den Wohnkostensteigerungen darstellt, sondern ökonomische Gewinne, die mit dem Grundbedürfnis Wohnen lukriert werden.
Im Jahr 1922 erließ die Republik ein Mietengesetz, das sehr effektiv Wohnkosten begrenzt hat (ein kurzer Überblick über Geschichte und Wirkung hier). Als Nebeneffekt hatte diese Begrenzung der Wohnkosten einen Investitionsboykott der HausbesitzerInnen von Altbauhäusern (Zinshäusern?) über Jahrzehnte hinweg zur Folge. Die begrenzende Wirkung des Schutzes vor hohen Wohnkosten wurde seit 1968 (eingeleitet von der ÖVP-Alleinregierung) schrittweise und systematisch ausgehöhlt, um Haus- und WohnungsbesitzerInnen eine höhere Rendite zu ermöglichen und sie auf diese Weise zu Investitionen anzuregen. Der Erfolg ist eingetreten: Gab es in den Achtzigern etwa in Wien noch über 30% an Altbau-Substandard-Wohnungen mit Toilette am Gang, so sind diese Wohnungen heute fast inexistent. Im Jahr 2011 waren nur mehr 1,5% aller Hauptwohnsitzwohnungen in Wien ohne Bad bzw. Dusche, 2,2% hatten kein WC (8,2% waren ohne Zentralheizung). Gleichzeitig gibt es ein weitgehend unverständliches und für die BewohnerInnen (ohne Einschaltung eines Gerichts) faktisch unüberprüfbares System der Mietpreisbildung, das enorme Mietpreissteigerungen für Wohnungen ermöglicht. Einher ging diese Entwicklung unter anderem auch mit der Schaffung befristeter Mietverträge. Die Auswirkungen sind geradezu katastrophal: 185.000 WienerInnen sind allein im Jahr 2017 innerhalb Wiens umgezogen. Das sind ziemlich genau 10% der Bevölkerung, die jedes Jahr innerhalb Wiens eine neue Bleibe suchen. Diese Dauerrotation eines Teils der Bevölkerung mit befristeten Mietverträgen ist ein entscheidender Preistreiber.
Kein Fortschritt ohne Mietkostenbegrenzung und Beschränkung von befristeten Mietverträgen
Wohnkosten sind eine existenzielle Frage für alle Menschen in einer Gesellschaft. Die enorme Erhöhung der Wohnkosten für einen großen Teil der Bevölkerung geht mit einem Verlust an Konsumfähigkeit in anderen Bereichen einher. Das macht etwas mit Menschen, das nicht allein auf „schlechte Stimmung“ reduzierbar ist. Sie stehen jedenfalls vor einer Entscheidung, die einen Bruch zu ihrer Lebensplanung und ihrer Vorstellung von sich selbst nach sich zieht: Entweder sie akzeptieren langanhaltende Einschränkungen im Konsumverhalten oder sie verlassen den bisherigen Wohnort (wobei die Wohnkosten auch in angeblich billigeren Gegenden die Einschränkungen beim Konsum allenfalls verringern, niemals aber völlig kompensieren). Beides ist in jedem Fall ein individuell erlebter Statusverlust und damit quasi eine emotionale Verletzung.
Um echte und überprüfbare Mietzinsobergrenzen und eine Beschränkung befristeter Mietverträge führt kein Weg vorbei. Zumindest kein fortschrittlicher…