reflektive
Westautobahn: Brücke über den Fluss Alm in Oberösterreich

Und alle winkten… Im Schatten der Autobahn

Ein Roman von Bruno Schernhammer beschreibt Gesellschaft, Menschen, Fortschrittsglaube, Hoffnung, Politik, Gewalt und Verzweiflung über 80 Jahre hinweg. Am Beispiel der Autobahn in Oberösterreich und ihrer Bedeutung für die Menschen.

Innerhalb von drei Jahren, so versprach Adolf Hitler den ÖsterreicherInnen kurz vor der Volksabstimmung zum „Anschluss“ im April 1938, sollte die Reichsautobahn von Salzburg nach Wien führen. Zu diesem Zweck hatten die Nazis bereits in den Jahren zuvor als Touristen getarnte Ingenieure nach Österreich geschickt, um den Bau vorzubereiten. Mit großem propagandistischem Aufwand, Live-Übertragungen im Radio, eigenen Werbebroschüren und Werbeevents wurde die Reichsautobahn zum Inbegriff der Modernisierung Deutschlands aufgebaut: Jobs, Technik, Fortschritt.

Das so geschaffene Bild prägte noch Jahrzehnte nach der Zerschlagung des Nazi-Systems die Vorstellungswelt: „Hitler war ein böser Mann, doch baute er die Autobahn“, persiflierten die Schmetterlinge noch 1976 in der Proletenpassion den impliziten Rechtfertigungsdiskurs zum Nationalsozialismus in Österreich und konnten mit einem umfassenden Wiedererkennungseffekt rechnen.

Doch was Österreich betrifft, war selbst das falsch am Nationalsozialismus: Im Herbst 1938 wurden ganze 16 Kilometer Autobahn zwischen der heutigen Grenze zu Deutschland am Walserberg und der Stadt Salzburg fertiggestellt. Weitere 60 km der geplanten Strecke waren zwar im Bau, wurden aber bis zum kriegsbedingten Abbruch der Arbeiten im Jahr 1942 nicht mehr fertiggestellt. Erst Mitte der 1950er wurde der Autobahnbau auf der von den Nazis geplanten Trassenführung wieder aufgenommen und 1967 mit der Freigabe der letzten Teilstrecke fertiggestellt.

Etwas zynisch könnte die Geschichte der Westautobahn als Denkmal verzögerter und unterbrochener Fortschrittsversprechungen erscheinen. Die Autobahnbrücke über den Fluss Alm in Oberösterreich, einem Zufluss zur Traun, zählte zu jenen Teilbauwerken, die bereits kurz nach dem „Anschluss“ begonnen wurden, um in der Folge fast zwei Jahrzehnte, bis 1961, unvollendet und unbenutzt herumzustehen. Diese Kulisse der Autobahnbrücke nutzt Bruno Schernhammer, um eine Art Kulturgeschichte des Autobahnbaus und seiner Wahrnehmung durch den Menschen zu schreiben. Die Kulisse ist zwar eine ganz bestimmte Autobahnbrücke, aber die Geschichte ist eine Geschichte von Menschen, ihrem Zugang zu Mobilität, Motoren, Stein und Beton… und der Art und Weise, wie sich ihre Wahrnehmung über die Jahre hinweg verändert, oder eben auch nicht.

„Und alle winkten“ ist eine Collage, die erst mit der Zeit zu einem Erzählstrang verbunden wird. Die Erzählung ent- oder besser – verwickelt sich um einen real existierenden Bau unter Einbeziehung tatsächlich existierender Dokumente aus den Erzählperioden: den Strafen der Polizei im Ständestaat, den Verzeichnissen über Zwangsarbeit im Nationalsozialismus, den Dokumenten zum Bau der Reichsautobahn und der dazugehörigen Propaganda.

Schernhammers Roman zieht einen Bogen, der lange vor dem Bau der Autobahnbrücke mit einem Modernisierungsgedanken beginnt: Ein Brückenbau zum 50. Thronjubiläum Franz-Josefs war es gewesen, der den Menschen der Gegend 1898 wesentliche Erleichterungen im Alltag verschafft hat, mit kürzeren Wegen und Sicherheit vor Hochwasser. Im Roman erzählen Buben, die verbotenerweise während des Ständestaats live-Radioübertragungen der Eröffnung von Teilstücken der Reichsautobahn in Deutschland verfolgen, und darüber prompt sowohl in Konflikt mit ihren Eltern, Lehrern und der Polizei geraten. Es erzählen aber auch Zwangsarbeiter und ZwangsarbeiterInnen beim Autobahnbau des Nationalsozialismus und der Schreiber selbst, der nach Abschluss der Matura über die Autobahn nicht nur zum Studium nach Linz und Wien fahren kann, sondern auch auf Urlaub. Also in die weite Welt.

Aus wechselnden Erzählperspektiven zeichnet Schernhammer in seinem Roman einen roten Faden des Verhältnisses der Menschen zur Autobahn und ihrer Wirkung auf die Gesellschaft. Der Autobahnbau als Projektionsfläche der Hoffnung einer Gruppe Jugendlicher, die den Nationalsozialismus für sich als Gegenspieler zur verhassten autoritären Gewalt von Schule und Eltern begreifen wollen. Dann aber auch Autobahnbau aus dem Blickwinkel von Menschen, denen zunehmend bewusst wird, welche Auswirkungen Nationalsozialismus für ihr Alltagsleben hat. Autobahnbau als Konfrontation von ZwangsarbeiterInnen mit der Dorfbevölkerung, aber auch umgekehrt, etwa hinsichtlich der Folgen persönlicher Kontakte. Ohne jemals explizit eine moralische Frage aufzuwerfen werden LeserInnen gezwungen, zu entscheiden, ob dieser Bau, die Brücke, aber damit auch die ganze Autobahn, quasi wertfrei als Gebrauchsgegenstand betrachtet werden kann: Ist eine Autobahnbrücke nur eine Autobahnbrücke, oder ist sie Teil des Horrors, in dem sie entstanden ist?

Für einen zusätzlichen, stillen Beobachter des Baus, der über die gesamten 80 Jahre der Erzählung hinweg vor Ort ist, erscheint die Geschichte eben nicht als Episode oder als Aneinanderreihung von Einzelerlebnissen, sondern als Ausbruch von Gewalt in unterschiedlichsten Ausformungen: als familiäre, politische, geschlechtsbezogene und nationalistische Gewalt, als Konfrontation zwischen sozialen Klassen bis hin zum Konsumzwang, der nach 1955 ein neues Versprechen der Befreiung abgegeben hat, das zwar individuell einlösbar war, aber eben nicht für alle.

Buchcover Bruno Schernhammer

Bruno Schernhammer

Und alle winkten

Im Schatten der Autobahnbau

Verlag der Theodor Kramer-Gesellschaft

Wien 2018, 216 Seiten, ISBN: 978-3-901602-74-0

reflektive verschenkt zwei Ausgaben des Buches unter jenen LeserInnen, die sich per Mail bis zum 14. Juni 2018 mit dem Stichwort „Im Schatten der Autobahn“ unter der Adresse kontakt@reflektive.at melden. Wir bedanken uns diesbezüglich beim Autor Bruno Schernhammer und der Theodor Kramer-Gesellschaft.

 

Lesungen aus: Und alle winkten

29. Juni 2018 Gmunden, Stadtbibliothek

21. September Vorchdorf, Pfarrsaal

27. September Göfis, Öffentliche Bibliothek

30. September Dornbirn, Theater Wagabunt

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