Der wirtschaftsliberaler Think Tank Agenda Austria schießt sich zur Verteidigung der Bundesregierung auf das Sozialsystem ein. Mit falschen Zahlen und wenig seriösen Vergleichen.
Einen Kleinwagen pro Jahr liefern DurchschnittsverdienerInnen in Österreich an die Sozialversicherung ab, meint die von zahlreichen österreichischen Unternehmen finanzierte wirtschaftsliberale Agenda Austria in ihrer „Montagsgrafik“ vom 16. Juli 2019.
Im profil legt Agenda-Austria-Boss Schellhorn unter dem Titel „Tarnen und Täuschen“ nach: „2016 (…) wurden 60 Milliarden Euro ausgegeben, das sind um 50 (!) Prozent mehr als zehn Jahre davor. Womit die Ausgaben mehr als doppelt so schnell gestiegen sind wie die allgemeinen Preise.“
Sozialversicherung auf der Agenda
Dass Agenda Austria die Sozialversicherung zum Thema macht, ist nicht neu. Neu ist die unübersehbare Verknüpfung der sich als „unabhängig“ bezeichnenden, aber vor allem von Wirtschaftsunternehmen finanzierten Agenda Austria mit einem Regierungsprojekt: Ohne Vorankündigung oder Debatte wurde der Sozialversicherung am 5. Juli 2018 im Parlament per Gesetz verboten, Investitionen zu tätigen oder Personal aufzunehmen. Auch der Abschluss von Vereinbarungen mit den Ärztekammern wurde eingeschränkt. Das hat selbstverständlich Folgen: Lange vorbereitete Projekte wie etwa eine Kooperation zwischen dem Land Kärnten und der Unfallversicherung beim Betrieb einer gemeinsamen Unfallversorgung in Klagenfurt, die Erneuerung von Bezirksstellen oder Ambulatorien wurden auf Eis gelegt. Auch der vereinbarte Ausbau des psychotherapeutischen Angebots wird wohl vorerst aufgeschoben werden müssen. Dieses Investitionsverbot werden PatientInnen und Versicherte jedenfalls spüren, und sei es nur, dass notwendige Verbesserungen mit eineinhalb Jahren Verspätung umgesetzt werden.
Sozialversicherung, Ärztekammern und Gewerkschaft protestieren gemeinsam und kündigen rechtliche Schritte an. Sehr wahrscheinlich verstößt die beschlossene Regelung etwa gegen Art. 120 b der Bundesverfassung.
Agenda Austria und Franz Schellhorn bemühen sich in diesem Zusammenhang, die Regierung von Kritik freizuspielen und den Sachverhalt ein bisserl anders darzustellen: „Für einen Durchschnittsverdiener mit 32.637 Euro netto im Jahr werden knapp 19.300 Euro an die Sozialversicherung abgeführt. Und trotz dieser enorm hohen Beiträge wollen es die zuständigen Damen und Herren nicht schaffen, eine sichere Versorgung der Patienten zu gewährleisten? Nur weil die Ausgaben nicht mehr schneller steigen dürfen als die Einnahmen? Hier scheint tatsächlich vieles im Argen zu liegen. Für die Versicherten ist zu hoffen, dass es der Regierung mit ihren Reformbemühungen ernst ist. Was natürlich heißt, dass es ziemlich ungemütlich werden könnte.“
Polemik mit Kostensteigerung
Schon das Beispiel mit den 50% ist fragwürdig: Ein Kostenanstieg von 40 Milliarden € auf 60 Milliarden € in zehn Jahren klingt nach einem heftigen Sprung. In diesen zehn Jahren gab es allerdings eine Inflation von insgesamt etwa 25%. Inflationsbereinigt gestiegen sind die Ausgaben also nicht 50%, sondern um 20%. Dazu kommt, dass heute demographiebedingt (die ersten geburtenstarken Jahrgänge gehen in Pension) 12% mehr PensionistInnen zu versorgen sind, als im Jahr 2005. Auch in der Krankenversicherung gab es – etwa bei den Medikamentenkosten – Entwicklungen, die eine seriöse Darstellung des Kostenanstiegs erwähnen müsste. Darauf verzichtet Schellhorn.
Der Kleinwagen und sein Wert
Wenig aussagekräftig ist auch der Vergleich mit dem Kleinwagen: Beiträge von DienstgeberInnen und DienstnehmerInnen zusammen würden bei DurchschnittsverdienerInnen 19.693,- € im Jahr ausmachen, meint Agenda Austria. Dem gegenüber stünde ein Nettoeinkommen von 33.156,- €.
Die Zahlen kommen auf Grund eines nicht sehr seriösen Umgangs mit Daten zu Stande: Das, was als Einkommen von DurchschnittsverdienerInnen dargestellt wird, sind 50.000 € im Jahr und selbstverständlich nicht das Durchschnittseinkommen aller ArbeitnehmerInnen, sondern nur der Vollzeitbeschäftigten. Da knapp 30% aller ArbeitnehmerInnen nicht in Vollzeit beschäftigt sind, liegt das tatsächliche Durchschnittsgehalt weit darunter, nämlich bei 31.752 € Brutto/Jahr. Außerdem ist ein Durchschnittswert nicht sehr aussagekräftig: Nur knapp 18% aller ArbeitnehmerInnen verdienen zumindest 50.000 € brutto im Jahr. Von DurchschnittsverdienerInnen also keine Spur.
Ob das „schummeln“ ist oder nicht, mögen LeserInnen selbst beurteilen. Ganz sicher aber schummelt sich Agenda Austria um die Leistungen herum, die Menschen für dieses Geld erhalten: „Unabhängig davon, ob Sie Vollzeit oder Teilzeit arbeiten, bekommt die Sozialversicherung fast ein Drittel Ihrer jährlichen Arbeitskosten. Dem stehen im internationalen Vergleich großzügige Leistungen der Sozialversicherung gegenüber. „Jeder Arbeitnehmer zahlt sehr hohe Sozialversicherungsbeiträge, entsprechend effizient und zielgerichtet sollten diese auch eingesetzt werden“, schreibt die Agende Austria in ihrer Aussendung. Über den dreiteiligen Leistungskanon, den alle Versicherten im Jetzt und durch die Pension in Zukunft bekommen, wird bei der falschen Kleinwagen-Metapher kein Wort verloren. Auch das ist eine Agenda. Reflektive nimmt den fiktiven 50.000 Brutto/Jahr verdienenden Menschen als Anlass, die Grundlagen der sozialen Absicherung in einem solidarischen Sozialversicherungssystem wieder auf den Boden der Fakten zu bringen.
Arbeitslosenversicherung
Wer wirklich 50.000 € brutto im Jahr verdient, zahlt pro Jahr € 3.000,- an Arbeitslosenversicherungsbeitrag (3% an DienstgeberInnen- und 3% an DienstnehmerInnenbeiträgen). Wird dieser Mensch in der Folge arbeitslos, so erhält er ein tägliches Arbeitslosengeld von 49,95 €. Arbeitslosigkeit dauerte 2016 im Durchschnitt 126 Tage. In dieser Zeit würde also ein Arbeitslosengeld von 6.244,- €bezahlt. Dazu kommen noch Pensions- und Krankenversicherungsbeiträge in der Höhe von 3.226,- €, zusammen also 9.470 €. Im Durchschnitt wurde für jede 2016 arbeitslos gemeldete Person zusätzlich 2.293 € an Förderungen (etwa für Ausbildung, Beratung, Betreuung usw.) aufgewandt. Der Kostenaufwand steigt damit auf 11.763 €. Rein statistisch betrachtet werden Beschäftigte alle 3,7 Jahre arbeitslos.
Nun werden selbstverständlich nicht alle Menschen nach jeweils 3,7 Jahre arbeitslos. Und nicht alle erhalten Förderungen. Es erschiene aber als einigermaßen absurd, wenn sich Herr Schellhorn oder irgendwelche anderen IdeologInnen darüber beschweren würden, dass sie nicht arbeitslos werden. Und noch ein Detail: Österreich hat mit 55% des vorherigen Nettogehalts eines der niedrigsten Arbeitslosengelder in der Europäischen Union (der EU-Durchschnitt liegt bei 70%).
Krankenversicherungsbeiträge
Unser 50.000 € brutto im Jahr verdienender Mensch zahlt im Jahr 3.825 € an Krankenversicherungsbeiträgen. Dafür erhält er im Durchschnitt Leistungen im Wert von 2.534 €.
Es kommt aber noch etwas dazu: Das Krankenversicherungssystem in Österreich ist solidarisch. Diese Leistungen erhalten ohne zusätzliche Beiträge auch seine Kinder. Und auch er selbst, wenn er einmal alt ist (und Gesundheitskosten verursacht, die weit über seinen Beiträgen liegen). Genauso, wie er mitversichert war, als er ein Kind war und noch keine Versicherungsbeiträge entrichtet hat. Wer das tatsächliche Durchschnittseinkommen in Österreich von 33.156,- € brutto verdient, bezahlt nur 2.536 € jährlich an Krankenversicherungsbeiträgen im Jahr. Und wer das mittlere Einkommen von Frauen von 1.480 € pro Monat verdient, zahlt 1.584 € an Krankenversicherungsbeiträgen. Diese Personen bekommen aber auch im Durchschnitt Leistungen im Wert von 2.534 € im Jahr (und sind sehr wahrscheinlich dankbar, wenn sie diese gar nicht brauchen). Krankenversicherungsbeiträge mögen als hoch erscheinen, wenn ein Mensch nur einen Schnupfen im Jahr hat, aber sie sind nicht der Rede wert, wenn er einen schweren Unfall hat oder an einer schweren Krankheit leidet.
Pensionsversicherung
Wer 50.000 € brutto im Jahr verdient, zahlt (immer mit DienstgeberInnenanteil gerechnet) 22,8% dieses Betrags an Pensionsbeiträgen im Jahr. Das sind 11.400 € im Jahr. Für dieses Jahr erhält der betreffende Mensch einen Pensionsanspruch von 1,78% des Bruttoeinkommens auf das Pensionskonto gutgeschrieben. Das sind 890 €. Diese 890 € pro Jahr (oder 64 € im Monat) erhält der angebliche Durchschnittsverdiener der Agenda Austria nach dem Pensionsantritt für durchschnittlich 21,54 Jahre. So lange haben Menschen, die 2016 gestorben sind, nämlich im Durchschnitt eine Pension erhalten. Für die 11.400 € an Pensionsbeiträgen erhält dieser Mensch also im Durchschnitt Pensionsansprüche im Wert von 19.170 € (=890 Euro pro Jahr *21,54 Pensionsjahre). Aus heutiger Sicht. Diese 890 € werden nämlich jedes Jahr „aufgewertet“ (also quasi „verzinst“). Geht besagter „Durchschnittsverdiener“ in elf Jahren in Pension, werden es etwa 1.100 € im Jahr, also weit über 20.000 Euro in der Pensionsphase sein, die er für seine bezahlten 11.400 € erhält. Anders gesagt: Er kriegt in der Pensionen ein deutlich größeres Auto, als er jetzt von seinem Einkommen bezahlt hat.
Agenda Kürzungsdiskurs
Selbstverständlich gibt es im österreichischen Sozialsystem einiges zu verbessern. Das Bild von der Sozialversicherung, die den Menschen jedes Jahr ohne gleichwertige Gegenleistung einen Kleinwagen abnimmt, ist jedoch ein polemischer Blödsinn. Wer es verwendet, lenkt –wissentlich oder nicht – von den eigentlichen Problemen ab und macht Stimmung für Leistungskürzungen. Denn von den 60 Milliarden €, die Franz Schellhorn als Kosten der Sozialversicherungen anführt, sind 57,5 Milliarden entweder Sach- oder Geldleistungen für Versicherte, kommen also den Menschen direkt und unmittelbar zu Gute. Nur 1,2 Milliarden, das sind etwa 2,4% aller Einnahmen, sind Verwaltungskosten. Bleibt die Frage: Wo und wem soll etwas weggenommen werden?
Anmerkung: Die Differenz zwischen den hier angeführten Beiträgne für Arbeitslosenversicherung, Pensionsversicherung sowie Krankenversicherung und den Angaben von Agenda Austria besteht aus dem Unfallversicherungsbeitrag (1,3%), der AK-Umlage (0,5%) und dem Wohnbauförderungsbeitrag (1%). Ersterer versichert nicht die Beschäftigten, sondern die Unternehmen (siehe dazu hier). Die beiden letzten Positionen zählen nicht zur Sozialversicherung.