reflektive

Soziale (Un)Ordnung

„Die Gesellschaft als Urteil“ von Didier Eribon setzt nahtlos an seinem äußerst erfolgreichen Vorläufer „Rückkehr nach Reims“ an. Der französische Soziologe beschäftigt sich darin mit sozialen Ordnungsstrukturen und der Bedeutung von Familiengeschichten und er beschreibt jene Werke, die ihn als „Klassenflüchtling“ bereichert und vorangebracht haben. Eine soziologische und sozialpolitische Reiseliteratur der besonderen Art.

Wie werden wir zu denen, die wir sind?

Für Eribon stellt die Familie eine Art „Mitgliedsausweis“ dar. Das Milieu, in das wir hineingeboren werden, bestimmt unseren Lebensweg und unseren Habitus. Didier selbst kommt aus einer Arbeiterfamilie. Eine seiner Großmütter konnte nicht lesen. Der Weg aus dem Arbeitermilieu zum homosexuellen Universitätsprofessor war für Eribon nur mittels des Bruchs mit und der Entfremdung  von seiner Familie möglich. Das war der Preis. Die Rückkehr nach Reims – die Heimatstadt seiner Eltern – wurde im gleichlautenden Buch vor zwei Jahren zum Erfolg. Das neue Buch startet mit den Auslassungen des Vorgängerbuchs, die für ihn damals noch nicht möglich waren zu behandeln. Seine Scham der eigenen Familie gegenüber nutzt er als Startpunkt zur Selbstanalyse. Denn  seine Familiengeschichte ermöglicht  gleichzeitig auch eine Gesellschaftsanalyse zur Rekonstruktion der sozialen Ordnung.

Eribons Aufstiegshilfen waren zunächst Regionalzeitungen, politische Debatten und die Stadtbibliothek. Dann später das Soziologiestudium auf einer Massenuniversität in Paris. Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, dass genau dieser junge Student an der Universität auf Bourdieu und Foucault traf und ihre Analysen in Theorie und Alltagsreflexion zu nutzen wusste.

Und welche soziale Ordnung trägt dazu bei?

Das Buch setzt sich mit Eribons Familiengeschichte auseinander. Denn die Erinnerungen daran sind immer auch Bestandteil der Gegenwart. Die Bildungs- und Berufswege, die der Vorgängergeneration verwehrt blieben, realisieren sich oftmals in der nächsten oder übernächsten Generation. Didier Eribons Eltern träumten vom sozialen Aufstieg, und erlebten wie ihr bescheidenes Wohlstandsniveau nur durch Kredite und gesundheitlichem Raubbau aufrechterhalten werden konnte. Eribons sozialer Aufstieg hatte seinen Ausgangspunkt in der Schule.

Dabei haben das Schulsystem oder auch die Kultur ein doppeltes Gesicht: einerseits versprechen sie den sozialen Aufstieg, andererseits legitimieren und verstetigen sie die soziale Ungleichheit. Das Kultur-Konzept an sich ist ausschließend, der Zugang ist nur jenen vorbehalten, die sich darin zu bewegen wissen. Und kulturelle Aneignung lässt sich nach Eribon im Bourdieu`schen Sinn ohne Gegenleistung, also Entfremdung vom Herkunftsmilieu nicht erlangen. Ein Beispiel: Opernvorstellungen gelten als Hochkultur, die Karten sind teurer als Kinokarten (ökonomisches Kapitel) und es braucht Hintergrundwissen über das musikalische Genre, um die Bedeutung des Stücks und im besten Fall italienische Sprachkenntnisse (kulturelles Kapitel). In den Pausenräumen braucht es für möglichen Smalltalk aber auch soziales Kapital, damit das Stehen in der „sich kennenden Menge“ erträglich ist. Der Kleidungsstil, die Körperhaltung und die Gesten erzählen zudem mehr als wir uns manchmal bewusst sind.

Eine gewisse Art der Selbstunterwerfung unter diese kulturellen Normen ist also notwendig. Unbehagen oder die Sorge als Neuling aufzufliegen, kennen alle, die sich abseits ihres bekannten Milieus bewegen. Denn das soziale Gefüge benötigt wechselseitige Anerkennung, aber auch Überwachung (Foucault schau herunter!) bzw. soziale Sanktionen. Ohne MitspielerInnen kein Spiel.

Was braucht es für das kollektive Erinnern?

Didier Eribon stellt ernüchtert fest, dass er wenig über seine Ahnen erkunden kann. Denn Arbeiterfamilien haben kein traditionelles Familiengedächtnis. Es gibt keine Häuser, Familienarchive, Briefe, Bücher oder ähnliches Material, die deren Geschichte zugänglich machen. Einzig die Arbeiterlieder können – wenn auch kollektiv – ein musikalisches Erinnerungsecho darstellen. Der Smalltalk mit einer Bekannten, die anmerkte, ihre (adelige) Familiengeschichte reiche bis ins 12. Jahrhundert zurück, treibt dies auf die Spitze. Im Buch merkt Eribon an, dass er folgendermaßen hätte kontern sollen:

„Meine Familie reicht nur bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Meine Vorfahren dienten den Reichen und Mächtigen, beziehungsweise ihre Arbeit diente den Reichen und Mächtigen dabei sich weiter zu bereichern. Ihre Vergangenheit verliert sich im Dunkel der Zeiten weit vor dem Mittelalter – in einer Welt allerdings, in der das Recht auf Geschichte, auf das jahrhundertelange „Zurückreichen“ nicht existiert: in der Welt der Ausgebeuteten.“(S. 168)

Auch die Sozialwissenschaften spielen bei der Geschichtswerdung eine Rolle. Die wissenschaftliche Sprache hat hier eine zentrale Bedeutung. In der deutschen Übersetzung des Buches ist von „populären Klassen“ die Rede. Wer spricht heute von Arbeiterklasse? Eribon merkt in Bezug auf seine eigene Disziplin – die Soziologie – selbstkritisch an, dass diese oft eine bürgerliche Perspektive einnehme und damit die Verstetigung der sozialen Ungleichheiten miterzeuge. Er macht deutlich, dass unsere soziale Welt aus heterogenen und auch gegensätzlichen Geschichten und Traditionen besteht. Und jene beherrschende Tradition verdeckt den Blick auf all die anderen, die derzeit nicht Oberhand haben.

Die Illusion der klassenlosen Gesellschaft – leugnen, schämen und spalten

Beherrschende Position ist derzeit, dass der Einfluss sozialer Herkunft als gesellschaftliche Platzzuweisung klein geredet bis übersehen wird. Das Ziel ist, linken progressiven politischen Strömungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Das von diesen Strömungen oft überstrapazierte Pochen auf Chancengleichheit ist allerdings ohne die Reduktion der tatsächlichen Ausschlussmechanismen chancenlos. Zusätzlich hat die Leistungsorientierung Hochsaison. Hier wird postuliert: „Wer etwas leistet, der kann es schaffen. Die anderen haben sich nicht genug bemüht.“ Die Kraft des Habitus umfasst auch den Selbstausschluss von benachteiligten sozialen Milieus  im Zugang zu Bildung. Die in der Arbeiterkultur hoch gehaltenen manuelle Arbeitsideale und ökonomischen Motive (Aus)Bildungsziele verstärken den Selbstausschluss, der von Betroffenen als freie Wahl begriffen wird:

„Der Klassenhabitus der unteren Schichten, die aus ihm resultierenden Selbstprojektionen und beruflichen Zielsetzungen greifen die bestehende Ordnung nicht an, sondern bestätigen und festigen die strikte Separierung der sozialen Klassen sowie die brutale Zuweisung der ungleichen Möglichkeiten, die sich für Herrschende und Beherrschte ergeben.“(S. 236)

Genau diese soziale Platzzuweisung ist in Eribons Analyse das gesellschaftliche Urteil, dass wir nicht abschütteln können. Und zwar beide Gruppen nicht: die Privilegierten, die notgedrungener Maßen ins Abstreiten ihrer Privilegien gehen müssen um sich nicht zu fragen, inwiefern sie in ihrem Alltag das soziale Ungleichgewicht verstärken. Und die Benachteiligten, die um ihre geringeren Realisierungschancen wissen und sich schämen. Den Zulauf von ehemaligen ArbeiterInnen zu rechten Parteien ist für Eribon ein „Adressierungsfehler“: nicht die PolitikerInnen, die die weitere Spaltung der Gesellschaft in Klassen vorantreiben werden angefeindet, sondern EinwanderInnen. Damit wird die „populäre Klasse“ in zwei Lager geteilt:

„hier die Ärmsten von gestern, die mithilfe einer schier unbegrenzten Kreditaufnahme die Sozialblöcke verlassen wollten, dort die Ärmsten von heute, die in diese Blöcke einziehen.“(S. 199)

Was wir sind? Das haben andere vor uns und nach uns für uns erfunden

Didier Eribons Buch macht deutlich, wie wichtig das Hinterfragen von gesellschaftlichen Urteilen ist. Denn dadurch nehmen wir ihnen ein Stück der Selbstverständlichkeit. Angesichts der vielen verschiedenen gesellschaftlichen sozialen Ordnungsstrukturen, die tief in unsere Sprache, Kultur, Wissenschaft, Schulsystem und Arbeitswelt verankert sind, ist das kein einfaches Unterfangen. Ohne einen Reiseleiter wie Eribon wäre es aber noch schwieriger.

Didier Eribon: Gesellschaft als Urteil. Berlin: Suhrkamp Verlag.

Soziologische Kurzführung:

Pierre Bourdieu erweiterte die Klassentheorie durch eines seiner Hauptwerke „Die feinen Unterschiede“ im Jahr 1979. Darin machte er die Ordnungssysteme, die soziale Klassen bilden mittels eines Kapitalmodells sichtbar: Soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital entscheidet über die gesellschaftliche Platzzuordnung. Zentrale Rolle spielt dabei das Habituskonzept: Als Habitus lässt sich – vereinfacht beschrieben – die wechselseitige Formung des Ichs mit der Gesellschaft als Norm und Wertesystem verstehen. Ein Beispiel: ein Kind aus einer Arbeiterfamilie erkennt seine Klassenzugehörigkeit, erlernt Verhaltensstrategien und bildet Präferenzen, die es wiederum bestätigten ein Arbeiterkind zu sein. Diese Platzzuweisung geschieht durch verschiedenen Mechanismen und Institutionen wie dem Bildungssystem, Vorstellung von (Hoch)kultur oder auch der Arbeitswelt.

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Anna Schopf

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