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Was ist nur mit Großbritannien los?

In aller Fairness: Der Brexit stand von Beginn an unter keinem guten Stern. Geführt von einer Remainerin als Premierministerin, gesegnet mit einer perfekt gespaltenen Partei und unrealistischen Erwartungen auf allen Seiten. Doch nach über zwei Jahren kann man Großbritanniens Probleme nicht mehr als Startschwierigkeiten abtun. Unter den ZuschauerInnen auf dem Kontinent verbreitet sich der Eindruck, die BritInnen hätten jede Vernunft verloren, knapp drei Monate vor einem ungeregelten EU-Austritt mit fatalen Folgen, politische Experimente zu wagen: Erst versuchen konservative Hardliner ihre eigene Premierministerin zu stürzen, dann erleidet Mays Deal mit der EU die größte Regierungsniederlage in der britischen Geschichte, gefolgt von einem Misstrauensvotum, das sie nur mit einer 3%-Mehrheit überlebt.

Und doch steht irgendwie alles wieder am Anfang. Obwohl einige Optionen – neue Regierungsspitze, Parlamentswahlen, der ausgehandelte Deal – ausgeschlossen wurden, ist man kein Stück näher an einer Lösung. Woran liegt es, dass man sich nicht einig wird? Wer oder was ist schuld am Brexit-Debakel? Und wie kann es jetzt weitergehen?

Mehr als nur Sturheit

Die offensichtliche Antwort mag lauten: Unverantwortliche PolitikerInnen mit Realitätsverlust. Ja, tatsächlich, viele wollen nicht akzeptieren, dass mit dem Brexit wesentlich weniger möglich ist, als gedacht. Am deutlichsten zeigt sich das im, in Großbritannien seltenen, offenen Bruch zahlloser MinisterInnen mit der Regierungslinie. Einige machen schlicht Theresa Mays miese Verhandlungstaktik für ihre Enttäuschung verantwortlich. Bisher konnte keine Fraktion – weder unter den Torys, noch darüber hinaus  – nachgiebiger gestimmt werden. Das ist auch Teil einer polarisierungsfreudigeren politischen Kultur, die der gemeinen mitteleuropäischen Konsenskultur fremd erscheint. Angesichts der nahenden Deadline und einer überwältigenden Mehrheit im Volk gegen einen No-Deal-Brexit ist die Hartnäckigkeit der Verantwortlichen allerdings auch für britische Verhältnisse ungewöhnlich.

Unklarheit durch das Referendum

Sturheit und politische Tradition reichen also nicht aus, um die verfahrene Lage zu verstehen. Wie Iain Begg von der London School of Economics gegenüber reflektive erklärt, macht es die Interpretation des Referendums so kompliziert zu sagen, wer näher am Willen der Mehrheit ist. „The complex question of how the UK should leave the EU cannot be answered with a binary option of ‚Remain’ or ‚Leave’,“ so Begg.

Man verpflichtete sich zwar, das Ergebnis zu ehren, doch warf die Entscheidung der Bevölkerung mehr Fragen auf, als sie Antworten gab: Was sind die Prioritäten für einen Deal? Zugang zum EU-Binnenmarkt oder Migrationsregulierung? Welche Kompromisse kann die Bevölkerung akzeptieren? Und was ist mit der EU als Verhandlungspartner überhaupt möglich? So bleibt es Leavern und Remainern möglich, die Regierungsvorschläge mit Parolen wie „Dafür hat das britische Volk nicht gestimmt“ und „Brexit heißt Brexit“ zu diskreditieren. Ohne Klarheit behalten alle ihre eigenen Vorstellungen davon, was Brexit soll und darf: ein Haufen von Fetzen, den Theresa May irgendwie zu einem Teppich flicken soll.

Wind of change

Was ihre Aufgabe nicht leichter macht, ist, dass sich das Meinungsbild seit 2016 verändert hat. Mittlerweile ist eine Mehrheit der Briten gegen den Brexit. Einige Remainer fordern ein zweites Referendum, gerade weil das erste Votum so undeutliche Instruktionen gab. Sie argumentieren, dass die WählerInnen nun,  da es mehrere klare Optionen zur Auswahl gibt,  eine informierte und klare Entscheidung treffen könnten. Dieser Idee begegnen allerdings viele mit Skepsis. Je mehr Optionen auf dem Wahlzettel stünden, desto kleiner wäre die gewinnende relative Mehrheit. Bei vier Optionen könnten etwa 26% der Stimmen ausreichen, um z.B. Theresa Mays Deal durchzusetzen. Doch was ist dann mit den enttäuschten 74%?

Opposition innerhalb der Regierungspartei

Die eigentliche Crux ist aber, dass ein Bruch mitten durch die Regierungspartei verläuft –  zwischen jenen, die Mays Kompromiss dem Verbleib in der Union vorziehen, und jenen, die dem Withdrawal Agreement einen No-Deal-Brexit vorziehen. Sie alle eint, dass sie gern mehr Zuckerl, also mehr Zugeständnisse von der EU hätten. Bisher ist das allerdings mehr als unwahrscheinlich. Von dieser Perspektive aus betrachtet sind die Unstimmigkeiten mit den stimmschwachen, kleineren Fraktionen nachrangig. Sie erschweren allerdings eine Allianz über Parteigrenzen hinaus. Eine, die May seit dem Votum am 15. Jänner zu schmieden versucht.

Labour ist sich selbst am nächsten

Ein Aspekt, der auf dem Festland wenig diskutiert wird, ist die Rolle der oppositionellen Labour-Partei im Brexit-Irrgarten. Diese befindet sich in einer nicht minder prekären Lage. Parteichef Jeremy Corbyn ist seit Jahrzehnten überzeugter EU-Gegner, doch die Mehrheit der Mitglieder und WählerInnen sind Remainer. Während die Konservativen eine klare offizielle Position haben, die von einigen in der Partei abgelehnt wird, hält sich Labour alle Optionen offen. Man will den Brexit, aber nicht so, wie ihn die Regierung vorschlägt. Ein zweites Referendum überlegt man sich noch, aber der No-Deal soll es nicht sein. Anstatt für ein konkretes Abkommen zu werben, verhindert Labours strategische Unentschlossenheit konstruktive Verhandlungen mit der Regierung. Labours Fokus scheint eher auf Wahlkampf als auf dem Brexit-Ergebnis zu liegen. Corbyns Partei stimmte gegen den Deal, doch anstatt eine Alternative vorzuschlagen, forderte sie, die „Zombie-Regierung“ solle sich Neuwahlen stellen. Natürlich ist es nicht die Aufgabe der Opposition, es der Regierung leichter zu machen, doch Corbyn muss sich die Kritik gefallen lassen, dass er einen No-Deal-Brexit in Kauf nimmt, nur um die nächste Wahl zu gewinnen.

Der Druck steigt von Positionen abzurücken

Das größte Problem ist, dass die Regierungspartei selbst in ihren Präferenzen für den Brexit und ihrer Interpretation des Referendums gespalten ist. Hinzukommen sehr spezifische Ansprüche von kleineren Parteien, wie die Vermeidung des sogenannten „Backstops“ seitens der nordirischen DUP oder die Rückgewinnung der Fischereirechte in britischen Gewässern seitens der schottischen SNP, die bei der EU auf taube Ohren stoßen. Ist Sturheit Teil des Problems? Sicher. Aber wir dürfen nicht übersehen, dass es beim Brexit um die Gestaltung der nächsten Jahrzehnte geht. Außerdem umspannt die Beziehung zur EU dutzende Bereiche, die wiederum mit dutzenden Interessen verbunden sind. Insofern ist es sowohl nachvollziehbar, als auch wünschenswert, dass sich PolitikerInnen beim Thema  engagiert zeigen. Die Brexit-Expertin Jill Rutter vom Institute for Government betont im Gespräch mit reflektive, dass Abgeordnete nun, wo einige Optionen abgearbeitet wurden und der Druck weiter steigt, eher von ihren Positionen abrücken könnten. Die jüngsten Versuche im Unterhaus einen No-Deal-Brexit durch Anträge zu erschweren, lassen vermuten, dass sich zumindest eine Mehrheit gegen dieses Szenario bilden könnte.

Tabubrüche in der britischen Demokratie

Sollten alle Bemühungen um einen Deal in Westminster scheitern, so ist nach Beggs Einschätzung ein zweites Referendum, inklusive einer Verlängerung der Brexit-Deadline durch die EU, der wahrscheinlich einzige Weg aus der Krise. „When you have eliminated the impossible, whatever remains, however improbable it may seem, must be the way forward“ so Begg frei nach dem berühmten Detektiv aus der Baker Street.

Vielleicht noch wichtiger: Das Durcheinander der letzten Wochen wirft auch Fragen über die Zukunft der britischen Demokratie auf. Selten gab es derartig viele Tabubrüche hintereinander: offene Rebellion im Kabinett, enormer Rückgang der Klubdisziplin, ungewöhnlich viel Einfluss der „Backbencher“ auf die Regierungslinie, etc. Im Vergleich zu vielen kontinentalen Parlamenten ist das britische mit seinem Mehrheitswahlrecht weniger repräsentativ. Dessen Befürworter unterstreichen die dafür erzielte Effizienz und Klarheit der Entscheidungsfindung. Doch, so Jill Rutter, ist das Parlament momentan weder effizient noch klar. Ob und wie sich Westminster permanent verändert, kann noch nicht abgeschätzt werden. Es heißt weiterhin: Abwarten und Tee trinken. Ein Glück, dass die dazugehörende Milch aus Großbritannien stammt.

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Louis Reitmann

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